Die Verformung im Einkristall gliedert sich in vier Bereiche: Elastischer Bereich, Einfachgleitung, Mehrfachgleitung und Kristallerholung.

Einleitung

Auch wenn Einkristalle in der Technik weit aus weniger eingesetzt werden als Polykristalle, so lassen sich an ihnen dennoch sehr schön die Prozesse einer Verformung verstehen. Insbesondere auf das Spannung-Dehnungs-Diagramm einer unter Zug verformten Einkristall-Probe soll im Folgenden näher eingegangen werden.

Spannungs-Dehnungs-Diagramm eines Einkristalls
Abbildung: Spannungs-Dehnungs-Diagramm eines Einkristalls

Bereich 0 – Elastischer Bereich

Wie im Artikel Verformung am Einkristall erläutert, wird bei einem Einkristall unter Zug zunächst jene Gleitebene aktiviert die möglichst nahe einem Orientierungswinkel von 45° zur Zugachse liegt, da in dieser Gleitebene die kritische Schubspannung zuerst erreicht wird.

Bleibt die Spannung hingegen stets unterhalb dieser Grenzspannung, so geht die gesamte Verformung nach Wegnahme der äußeren Kraft auch wieder vollständig zurück (reversible, elastische Verformung).

Wird die Schubspannung \(\tau\) über der Dehnung \(\epsilon\) des Einkristalls aufgetragen, so zeigt sich in diesem elastischen Bereich ein nahezu linearer Zusammenhang zwischen beiden Größen (Bereich 0). Die Gerade im Diagramm wird auch als Hooke’sche Gerade bezeichnet. Dieser elastische Dehnungsbereich Bereich wird Hooke’scher Bereich oder elastischer Bereich genannt.

Wenn die Scherspannung unterhalb eines kritischen Werts bleibt, wird sich das Material nur elastisch verformen. Scherspannung und Dehnung zeigen in diesem Fall ein lineares Verhalten (Hooke’sches Gesetz)!

Bereich I – Einfachgleitung

Wird der Einkristall über den Hooke’schen Bereich gedehnt, dann wird die kritische Schubspannung in den günstig orientierten Gleitebenen überschritten und die Versetzungen beginnen zu wandern. Die irreversible plastisch Verformungsvorgang setzt ein. Um den Verformungsprozess aufrecht zu erhalten, müssen die Versetzungen dann nur noch „am Laufen“ gehalten werden. Der Verformungsprozess vollzieht sich deshalb ohne dass hierzu ein allzu großer Spannungszuwachs erforderlich wäre. Das Material verhält sich in diesem Zustand relativ „weich“.

Zusätzlich werden durch die Materialdehnung auch immer wieder neue Versetzungen eingebracht. Viele bewegliche Versetzungen bedeuten letztlich eine gute Verformbarkeit, sodass sich der Verformungseffekt praktisch multipliziert. Die Kurve im Spannungs-Dehungs-Diagramm wird deshalb immer flacher (Bereich I). Da in diesem Bereich nur eine Gleitbewegung in einer Gleitebene vorliegt, nennt man diesen Bereich auch den Bereich der Einfachgleitung.

Bei moderaten Spannungen wird nur ein Gleitsystem aktiv (vorzugsweise unter 45° ausgerichtet). Dies wird auch als Einfachgleitung bezeichnet!

Anmerkung: Die Versetzungsmultiplikation führt im Extremfall sogar dazu, dass bei nahezu versetzungsfreien Einkristallen die Spannung nach Einsetzen des plastischen Verformungsprozesses sogar absinkt. Denn in einem solchen Fall müssen unter erhöhtem Kraftaufwand zunächst Versetzungen in nennenswertem Maße erzeugt werden. Erst wenn genügend Versetzungen vorhanden sind, kann der Verformungsvorgang bei nun geringerem Kraftaufwand bzw. geringerer Schubspannung fortgesetzt werden.

Bereich II – Mehrfachgleitung

Wird der Dehnungsvorgang über den Bereich der Einfachgleitung hinaus fortgesetz und die Spannung nun weiter erhöht, dann wird auch in anderen Gleitebenen (die etwas ungünstiger liegen) die kritische Schubspannung überschritten.

Außerdem tritt durch die Deformation des Einkristalls eine räumliche Umorientierung der Gleitebenen ein, sodass zuvor ungünstig gelegene Gleitebenen nun in günstigere Lagen versetzt werden können. Das Wandern von Versetzungen tritt dann in mehreren unterschiedlich orientierten Gleitebenen auf. Dies ist der Bereich der Mehrfachgleitung.

Im Bereich der Mehrfachgleitung sind aufgrund der größeren Spannungen mehrere Gleitsysteme aktiv!

Unweigerlich werden sich die wandernden Versetzungen auf den unterschiedlichen Gleitebenen begegnen und sich gegenseitig beeinflussen. Denn jede Versetzung bedingt im nahen Umfeld ihrer Versetzungslinie Druck- und Zugspannungen, die wiederum Einfluss auf andere Versetzungsbewegungen nehmen.

Besonders bedeutsam wird dies, wenn sich zwei Versetzungen schneiden. Energetisch ist dies nämlich nur unter hohem Kraftaufwand möglich. Zu solchen Situationen wird es jedoch unweigerlich kommen, wenn mehrere unterschiedliche Gleitebenen gleichzeitig aktiv werden. In diesem Stadium der Mehrfachgleitung behindern sich die Versetzungen deshalb gegenseitig am Wandern.

Hierdurch wird der Verformungsprozess jedoch erheblich erschwert, denn letztlich beruht ein guter Verformungsvorgang ja gerade auf der freien Versetzungsbewegung. Somit wird nun eine größere Spannung erforderlich, um den Verformungsprozess weiter zu treiben. Gleichzeitig werden hierdurch aber auch wieder mehr Versetzungen ins Material eingebracht, was zu einer weiteren Zunahme der gegenseitigen Behinderung der Versetzungsbewegung führt.

Es kommt im Material  zu einem „Versetzungsstau“. Die Spannung muss in diesem Bereich deshalb stark erhöht werden, um eine weitere Verformung zu gewährleisten (Bereich II). Spannung und Dehnung verhalten sich in diesem Bereich nahezu linear.

Laufen zwei Versetzungen auf unterschiedlichen Gleitebenen senkrecht aufeinander auf, so spricht man auch von einer Waldversetzung. Wie bei anderen Versetzungen auch, bleiben auch die Waldversetzungen nach Wegnahme der Kraft im Material erhalten. Wird der Verformungsprozess nun nochmals wiederholt, so sorgen hauptsächlich diese Waldversetzungen dafür, dass der Verformungsprozess von vorne herein erschwert abläuft. Das Materiel ist nun wesentlich schwerer zu verformen als vorher. Dieses Prinzip wird bei der sogenannten Kaltverfestigung genutzt, um eine festigkeitssteigernde Wirkung zu erzielen.

Als Waldversetzungen bezeichnet man senkrecht zueinander stehende Versetzungen, die sich gegenseitig blockieren! Waldversetzungen tragen maßgeblich zur Kaltverfestigung bei!

Bereich III – Kristallerholung

Die aufgestauten bzw. an Gitterdefekten festgehaltenen Versetzungen im Bereich der Mehrfachgleitung können nur durch größere Spannungen hiervon wieder losgerissen werden. Die Versetzungen weichen dann durch Diffusionsprozesse auch auf andere Gleitebenen aus. Im Falle von Schraubenversetzungen nennt man dieses Phänomen Quergleiten bzw. bei Stufenversetzungen Klettern.

Versetzungen können durch Quergleiten oder durch diffusionsgesteuertes Klettern auf andere Gleitebenen ausweichen. Die Versetzungen gewinnen neue Mobilität und das Material wird duktiler („Kristallerholung“).

Die Versetzungen erschließen sich somit neue Möglichkeiten zu wandern. Aufgrund der neugewonnenen Bewegungsmöglichkeit vollzieht sich der Verformungsprozess nun wieder leichter. Deshalb werden in diesem Stadium wiederum nur noch geringere Spannungszuwächse benötigt um den Einkristall weiter zu verformen (Bereich III). Der Kristall hat sich sozusagen von der Blockierung der Versetzungsbewegung „erholt“, weshalb dieser Bereich auch als Kristallerholung bzw. kurz als Erholung bezeichnet wird.

Irgendwann ist jedoch jener Punkt erreicht, wo der atomare Zusammenhalt den Spannungen im Material nicht mehr standhalten kann. Die Probe bricht schließlich (Bruch).

Anmerkung

Wird der betrachtete Einkristall im Zugversuch räumlich so ausgerichtet, dass unter Belastung keine Gleitebene bevorzugt orientiert ist, so wird die kritische Schubspannung in mehreren unterschiedlichen Gleitebenen gleichzeitig überschritten. Somit liegt bereits zu Beginn der plastischen Verformung Mehrfachgleitung vor. In diesem Fall enfällt im Spannungs-Dehnungs-Diagramm der Bereich I.

Eine solche Mehrfachgleitung wird im Allgemeinen auch bei polykristallinen Werkstoffen vorliegen, da dort die einzelnen Kristallite (Körner) regellos orientiert sind. Auf diese Weise kann auch das Spannungs-Dehnungs-Diagramm dieser Werkstoffe erklärt werden.