Kräftefreischnitt
Im Folgenden soll eine Formel hergeleitet werden mit der die aufzubringende Zugkraft \(F_2\) in Abhängigkeit der gegebenen Kraft \(F_1\), des als konstant vorausgesetzen Reibungskoeffizienten \(\mu\) und des Umschlingungswinkels \(\varphi\) ermittelt werden kann. Dabei wird der statische Grenzfall betrachtet, bei dem sich das ganze System bei maximal wirkender Reibungskraft gerade noch im Gleichgewicht befindet, d.h. das Seil noch nicht rutscht.
Hinweis: Wer sich der infinitesimalen Betrachtungsweise vertraut ist, kann eine alternative und wesentlich zeitsparendere Herleitung der Zusammenhänge in diesem Abschnitt wiederfinden.
Die Kräfteverhältnisse werden nun an einem kleinen Seilabschnitt nun näher betrachtet. Hierzu stelle man sich das Seil bzw. die Stange als jeweils kleine Geradenabschnitte gedacht vor [fahre hierzu auch mit der Maus über die Abbildung]. Einer dieser Abschnitte wird nun freigeschnitten und genauer untersucht.
Interaktive Abbildung: Seilreibung (polygonale Annäherung)
Spannt der gedachte Seilabschnitt den Winkel \(\Delta \varphi\) auf, dann greifen links und rechts unter dem Winkel \(\frac{\Delta \varphi}{2}\) die wirkenden Seilkräfte \(F\) an. Im reibungsfreien Fall sind die Seilkräfte \(F\) gleich groß. Die Kräfte können in x- und y-Richtung jeweils aufgeteilt werden [fahre hierzu mit der Maus über die untere Abbildung]. Dabei ergeben sich die senkrecht wirkenden Komponenten \(F_y\) zu:
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{F_y}
&F_y = F \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \\[5px]
\end{align}
Interaktive Abbildung: Kräftezerlegung am Seilausschnitt ohne Reibung
Diese vertikal wirkenden Kraftkomponenten pressen den betrachteten Seilabschnitt auf die Stange. Dies führt umgekehrt zu einer Unterlagskraft \(\Delta F_U\), die mit genau diesen Kraftkomponenten im Gleichgewicht steht (Kräftegleichgewicht in y-Richtung):
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{dF_U_reibungsfrei}
&\Delta F_U = 2 F_y \\[5px]
\end{align}
Nun wirkt jedoch auf dem betrachteten Abschnitt eine Reibungskraft \(\Delta F_R\) zwischen Seil und Stange. In diesem Fall muss/kann dann auf der rechten Seite mit einer um diesen Reibungsbetrag \(\Delta F_R\) größeren Kraft in horizontaler Richtung gezogen werden, damit sich das System in x-Richtung gerade noch im Gleichgewicht befindet [fahre hierzu mit der Maus über die untere Abbildung].
Interaktive Abbildung: Kräftezerlegung am Seilausschnitt mit Reibung
Demzufolge vergrößert sich dann auch der aufzubringende Kraftbetrag \(F\) am rechten Ende des Seils um einen entsprechenden Wert \(\Delta F\). Dies wiederum erhöht die dortige Kraftkomponente in y-Richtung um \(\Delta F_y\). Der Zusammenhang zwischen \(\Delta F_R\) und \(\Delta F_y\) ergibt sich mithilfe der Kraftänderung \(\Delta F\) über die entsprechenden Winkelfunktionen [fahre hierzu mit der Maus über die Abbildung].
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{dF_R}
&\underline{\underline{\Delta F_R = \Delta F \cdot \cos\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right)}} \\[5px]
\label{dF_y}
&\Delta F_y = \Delta F \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \\[5px]
\end{align}
Interaktive Abbildung: Kraftänderung am Seilausschnitt
Dadurch, dass sich der Kraftbetrag in y-Richtung um \(\Delta F_y\) erhöht, vergrößert sich nun auch die Unterlagskraft um diesen Betrag. Unter Einbeziehung der Gleichungen (\ref{F_y}) und (\ref{dF_y}) ergibt sich hierfür schließlich:
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{dF_U}
&\Delta F_U = 2 F_y + \Delta F_y = 2 F \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) + \Delta F \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) = \left(2 F + \Delta F \right) \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \\[5px]
\end{align}
Gemäß des Coulombschen Reibungsgesetztes ist diese Unterlagskraft \(\Delta F_U \) für die maximal mögliche Reibungskraft \(\Delta F_R\) maßgebend. Der entsprechende Zusammenhang wird über den Reibungskoeffizienten \(\mu\) hergestellt:
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{Reibungskraft}
&\underline{\underline{\Delta F_R}} =\underbrace{\boxed{\Delta F_{R,max}= \Delta F_U \cdot \mu}}_{\text{Coulombsches Reibungsgesetz}} = \underline{\underline{\left(2 F + \Delta F \right) \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu}} \\[5px]
\end{align}
Beachte, dass an dieser Stelle von der maximal (!) wirkenden Reibungskraft ausgegangen wird, bei dem sich das System gerade noch im statischen Gleichgewicht befindet (hierauf bezieht sich nämlich das Coulombsche Reibungsgesetz). Alle nachfolgenden Gleichungen beziehen sich also immer auf diesen statischen Grenzfall. Die Gleichungen verlieren ihre Gültigkeit, wenn die maximale mögliche Reibungskraft nicht voll ausgeschöpft wird! Im abschließenden Kapitel wird anhand der hergeleiteten Seilreibungsgleichung auf diese Thematik näher eingegangen.
Die hergeleitete Reibungskraft über den Kräfteansatz nach Gleichung (\ref{dF_R}) und die Reibungskraft gemäß dem Coulomb'schen Reibungsansatz nach Gleichung (\ref{Reibungskraft}) können nun gleichgesetzt werden und man erhält schließlich folgende Beziehung:
\begin{align}\;\;\;\;\;
&\Delta F \cdot \cos\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) = \left(2 F + \Delta F \right) \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu \\[5px]
&\Delta F \cdot \cos\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) = 2 F \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu + \Delta F \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu \\[5px]
&\Delta F \cdot \cos\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) - \Delta F \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu = 2 F \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu \\[5px]
&\Delta F \left[ \cos\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) - \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu \right] = 2 F \cdot \sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu \\[5px]
\label{1}
&\boxed{\Delta F = 2 F \cdot \tfrac{\sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu}{\cos\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) -\sin\left(\tfrac{\Delta \varphi}{2}\right) \cdot \mu} }\\[5px]
\end{align}
Zum Verständnis der Aussage von Gleichung (\ref{1}): Wirkt am linken Seilabschnitt - welcher unter einem beliebigen Winkelausschnitt \(\Delta \varphi\) betrachtet wird - die Kraft \(F\), dann muss am rechten Seilabschnitt aufgrund der wirkenden Reibung mit einer um \(\Delta F\) größeren Kraft gezogen werden. Im nächsten Abschnitt wird zu dieser Gleichung ein anschauliches Zahlenbeispiel gegeben.