Erster Hauptsatz der Thermodynamik für offene Systeme
Im vorherigen Abschnitt wurde gezeigt, dass sich die technische Arbeit \(W_t\) im Allgemeinen aus der Druckänderungsarbeit \(W_D\), der Hubarbeit \(W_H\) und der Beschleunigungsarbeit \(W_B\) zusammensetzt (sowie im reibungsbehafteten Fall Reibungsarbeit \(W_{Diss}\), auf die zunächst allerdings verzichtet werden soll):
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{8918}
&W_t = W_D+W_H+W_B~~~(+W_{Diss}) \\[5px]
&\text{mit:} \\[5px]
&W_D = W_V + W_S \\[5px]
&W_S = \Delta (pV) \\[5px]
&W_H = mg \cdot \Delta h \\[5px]
&W_B = \tfrac{1}{2}m \cdot \Delta c^2 \\[5px]
\end{align}
Die Druckänderungsarbeit \(W_D\) wiederum kann als Summe von Verschiebearbeit \(W_S\) und Volumenänderungsarbeit \(W_V\) dargestellt werden. Somit lässt sich die technische Arbeit \(W_t\) für den reibungsfreien Fall (\(W_{Diss}\)=0) auch wie folgt ausdrücken:
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{9318}
&W_t = \underbrace{W_V + W_S}_{W_D} + W_H + W_B \\[5px]
\end{align}
Abbildung: Technische Arbeit eines offenen Systems
Die Volumenänderungsarbeit \(W_V\) ist dafür verantwortlich, dass sich das Volumen der betrachteten Masse, welche gerade durch das offene System strömt, von \(V_1\) auf \(V_2\) ändert. Diese Volumenänderung kann dabei als in einem geschlossenen System stattfindend betrachtet werden (siehe hierzu auch den Exkurs). Man stelle sich hierzu einfach eine Blase um die durströmende Masse \(m\) vor - zum Beispiel eine imaginäre Plastiktüte, die mit der Masse \(m\) gefüllt ist und zunächst das Volumen \(V_1\) besitzt. Diese Blase wird nun angesaugt und auf das Volumen \(V_2\) komprimiert (bei Pumpen) oder expandiert (in Turbinen). Die Hülle der gedachten Blase stellt dabei die Systemgrenze dar, über diese hinweg keine Masseaustausch mit der Umgebung stattfindet. Durch diese Betrachtung kann die Volumenänderung des Stoffes im offenen System (dann auch als Kontrollraum genannt) als in einem geschlossenen System stattfindend betrachtet werden.
Animation: Bewegtes geschlossenes System durch den Kontrollraum
Für die Volumenänderungsarbeit \(W_V\) können folglich die Gesetzmäßigkeiten von geschlossenen Systemen zugrunde gelegt werden, insbesondere der erste Hauptsatz der Thermodynamik für ein Stoff in einem geschlossenen System. Dieser besagt, dass für den reibungsfreien Fall die Zufuhr von Volumenänderungsarbeit \(W_V\) und Wärme \(Q\) zu einer entsprechenden Änderung der innere Energie \(\Delta U\) des Stoffes führt:
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{6682}
W_V + Q = \Delta U \\[5px]
\end{align}
Abbildung: Volumenänderungsarbeit
Anmerkung: Prinzipiell müsste bei bewegten geschlossenen Systemen eine Änderung der kinetischen und potentiellen Energie der betrachteten Masse mitberücksichtigt werden. Bei der vorliegenden Betrachtungsweise bewegt man sich aber mit dem Schwerpunkt der Masse mit, während diese durch den Kontrollraum strömt (stofffestes Koordinatensystem). Bezüglich dieser Schwerpunktsbetrachtung ändert sich dann aber weder die potentielle Energie noch die kinetische Energie! Bei der äußeren Betrachtungsweise der strömenden Masse nach Gleichung (\ref{9318}) ist die Änderung der potentiellen und kinetischen Energie ohnehin bereits berücksichtigt (ortsfestes Koordinatensystem).
Gleichung (\ref{6682}) erklärt nun auch weshalb die Luft beim Ausschieben aus einem Kompressor teilweise eine Temperatur von über 100 °C aufweist. Denn während des Kompressionsvorgangs wird dem Gas Volumenänderungsarbeit zugeführt (\(W_V\)>0), die ohne Kühlung (\(Q\)=0) direkt zur Erhöhung der inneren Energie führt (\(W_V=\Delta U\)). Da für ideale Gase die innere Energie direkt mit der Temperatur verknüpft ist, steigt die Temperatur folglich an. Um solche, meist unerwünschte Temperaturerhöhungen zu vermeiden, werden Kompressoren in der Regel gekühlt (\(Q\)<0)! Aus diesem Grund befinden sich auch in Automobilen häufig sogenannte Ladeluftkühler wieder, sofern die Verbrennungsmotoren mit Kompressoren "aufgeladen" werden (Motoraufladung).
Die Volumenänderungsarbeit \(W_V\) kann gemäß Gleichung (\ref{6682}) somit auch anhand der Änderung der inneren Energie \(\Delta U\) und dem Wärmeumsatz \(Q\) ermittelt werden:
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{1957}
W_V = \Delta U - Q \\[5px]
\end{align}
Gleichung (\ref{1957}) kann nun in Gleichung (\ref{9318}) eingesetzt werden. Anschließend werden die Terme nach Prozessgrößen und Zustandsgrößen geordnet. Man erhält so schließlich den ersten Hauptsatz der Thermodynamik für einen Stoff, der durch ein offenes System bewegt wird:
\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{7962}
&W_t = \overbrace{\Delta U - Q}^{=W_V} + W_S + W_H + W_B \\[5px]
\label{6700}
&\underbrace{W_t + Q}_{\text{Prozessgrößen}} = \underbrace{\Delta U + W_S + W_H + W_B}_{\text{Änderung von Zustandsgrößen}} \\[5px]
\label{6671}
&\boxed{W_t + Q = \Delta U + \Delta \left(p~V \right) + m~g~\Delta z + \tfrac{1}{2}~m~\Delta c^2} ~~~~~\text{erster Hauptsatz für offene Systeme}\\[5px]
\end{align}
Links des Gleichheitszeichens stehen lediglich Prozessgrößen, die dem durchströmenden Stoff von außen zu- oder abgeführt werden. Auf der rechten Seite des Gleichheitszeichens stehen Zustandsgrößen, die durch diesen äußeren Energieumsatz entsprechend geändert werden.
Beachte, dass sich auch die Verschiebearbeit \(W_S\) als Änderung von Zustandsgrößen interpretieren lässt. Die Verschiebearbeit bringt zum Ausdruck, dass der Stoff mit dem Ausgangszustand \(p_1\) und \(V_1\) auf den Endzustand \(p_2\) und \(V_2\) geändert wurde \(\Rightarrow \Delta (pV)\).
Somit lässt sich Gleichung (\ref{6671}) wie folgt interpretieren. Wird einem Stoff, der durch ein offenes System bewegt wird, von außen die technische Arbeit \(W_t\) und die Wärme \(Q\) zu- oder abgeführt, so wird der Stoff im Allgemeinen folgenden Änderungen unterliegen.
- \(\Delta U\): Zum einen wird sich die innere Energie des Stoffes ändern. Dies resultiert in der Regel in einer entsprechenden Temperaturänderung.
- \(\Delta (pV)\): Zudem ändert sich die Ausschiebeenergie im Vergleich zur Einschiebeenergie. Dies ist mit einer entsprechenden Änderung im Volumen und im Druck verknüpft.
- \(\Delta z\): Ebenfalls ändert sich die potentielle Energie der bewegten Masse, wodruch sich die Schwerpunktlage entsprechend ändert.
- \(\Delta c^2\): Außerdem ergeben sich Änderungen in den kinetischen Energien bzw. den damit verbundenen Strömungsgeschwindigkeiten.
Interaktive Abbildung: Erster Hauptsatz für ein offenes System
Anmerkung: In Gleichung (\ref{7962}) wurde der Dissipationsterm \(W_{Diss}\) auf der rechten Seite des Gleichheitszeichens vernachlässigt. Unter Berücksichtigung von Reibung sollte dieser dann zwar prinzipiell auch auf der rechten Seite von Gleichung (\ref{6671}) auftauchen. Jedoch wird die zugeführte Dissipationsenergie früher oder später ohnehin in innere Energie dissipiert, wo sie auch zur Änderung des Drucks \(p\) und des Volumens \(V\) führt. Eventuell auftretende Dissipationsarbeiten werden also in den Termen \(\Delta U\) und \(\Delta (pV)\) bereits berücksichtigt!
Interaktive Abbildung: Erster Hauptsatz für ein offenes System
Gleichung (\ref{6671}) wird unter anderem durch die Änderung der inneren Energie \(\Delta U\) und die Änderung des Drucks bzw. Volumens \(\Delta (pV)\) ausgedrückt. Es handelt sich dabei um typische thermodynamische Zustandsgrößen. Mit Hilfe der Enthalpie, lassen sich diese beiden Terme zur sogenannten Enthalpieänderung zusammenfassen.