Anwendungsgrenzen der Seilreibungsgleichung

Im vorhergehenden Abschnitt wurde die Seilreibungsgleichung nach Euler und Eytelwein in folgender Form hergeleitet: 

\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{eytelwein}
&F_2 = F_1 \cdot e^{\mu \cdot \varphi}  \\[5px]
\end{align}

Diese Gleichung wurde dabei unter der Voraussetzung der maximal wirkenden Reibungskraft nach dem Coulombschen Reibungsgesetz hergeleitet (siehe hier). Sie behält also nur für den statischen Grenzfall unter maximal wirkender Reibungskraft ihre Gültigkeit, bei dem sich das System gerade noch nicht bewegt. Nur in diesem Fall ist bei bekannter Kraft \(F_1\), gegebener Reibzahl \(\mu\) und bekanntem Umschlingungswinkel \(\varphi\) eine Aussage über die aufzubringende Kraft \(F_2\) möglich. 

Denn tatsächlich kann die Kraft \(F_2\) durchaus geringer ausfallen, ohne dass der Gleichgewichtszustand verloren geht und das Seil in die umgekehrte Richtung abrutscht. Der Reibungseffekt kehrt sich in diesem Fall um und sorgt dafür, dass die betrachtete Kiste sogar mit einer geringeren Kraft als deren Gewichtskraft im Gleichgewicht gehalten werden kann. Die Kraft \(F_2\) hat in der Seilreibungsgleichung also die Bedeutung einer Maximalkraft (→\(F_{2,max}\)), die unter Wirkung der maximal möglich Reibungskraft nach dem Coulombschen Gesetz zustande kommt. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, ist es zweckmäßig die Seilreibungsgleichung wie folgt anzugeben:

\begin{align}\;\;\;\;\;
\label{maximalkraft}
&F_2 \le \boxed{F_{2,max} = F_1 \cdot e^{\mu \cdot \varphi}} ~~~~~\text{Maximalkraft für den statischen Grenzfall ("Hochziehen der Kiste")} \\[5px]
\end{align}

Beachte, dass die Reibungskraft immer der Bewegung bzw. der Bewegungstendenz entgegen gerichtet ist, d.h. beim versuchten Hochziehen der Kiste muss die Reibungskraft zusätzlich zur Gewichtskraft der Kiste \(F_1\) aufgebracht werden (\(F_2>F_1\)), während die Reibungskraft beim Ablassen der Kiste dafür sorgt, dass diese mit einem geringeren Kraftbetrag im Vergleich zur Gewichtskraft der Kiste \(F_1\) abgelassen werden kann (\(F_2<F_1\)). 

Der umgekehrte Grenzfall bei dem das Seil gerade nicht wieder in die andere Richtung abrutscht, kann analog zum vorhergehenden Fall betrachet werden. In diesem Fall kehrt sich die Situation um und die Gewichtskraft der Kiste \(F_1\) hat eine ziehende Wirkung und die Kraft \(F_2\) nimmt eine haltende Funktion ein. Dieser umgekehrt betrachtete Grenzfall hat in der Seilreibungsgleichung (\ref{eytelwein}) lediglich ein Vertauschen der Indizes zur Folge. In diesem Fall hat die Kraft \(F_2\) dann allerdings die Bedeutung einer Minimalkraft, die mindestens vorhanden sein muss um den Gleichgewichtszustand zu erhalten, sodass das Seil nicht abrutscht (→\(F_{2,min}\)). Die tatsächlich wirkenden Kraft \(F_2\) kann aber im allgemeinen Gleichgewichtszustand durchaus größer sein!

\begin{align}\;\;\;\;\;
&F_1 = F_2 \cdot e^{\mu \cdot \varphi} \\[5px]
&F_2 = F_1 \cdot \frac{1}{e^{\mu \cdot \varphi}} = F_1 \cdot e^{- \mu \cdot \varphi} \\[5px]
\label{minimalkraft}
&F_2 \ge \boxed{F_{2,min} = F_1 \cdot e^{-\mu \cdot \varphi}} ~~~~~\text{Mindestkraft für den statischen Grenzfall ("Ablassen der Kiste")} \\[5px]
\end{align}

Mit den im Abschnitt zuvor angenommenen Werten (\(F_1\)= 100 N; \(\varphi\)= 2,30; \(\mu\)= 0,3) ergibt sich für den statischen Grenzfall, in dem sich das Seil beim versuchten Hochziehen gerade noch nicht löst, eine Maximalkraft von \(F_{2,max}\) = 200 N sowie im umgekehrten Fall, bei dem sich das Seil beim versuchten Ablassen gerade noch nicht löst, eine Minimalkraft von \(F_{2,min}\) = 50 N:

\begin{align}\;\;\;\;\;
& \underline{\underline{F_{2,max}}} = F_1 \cdot e^{\mu \cdot \varphi} = 100 \text{ N} \cdot e^{0,3 \cdot 2,30}= 199,6 \text{ N} \approx \underline{\underline{200 \text{ N}}} \\[5px]
& \underline{\underline{F_{2,min}}} = F_1 \cdot e^{-\mu \cdot \varphi} = 100 \text{ N} \cdot e^{-0,3 \cdot 2,30}= 50,1 \text{ N} \approx \underline{\underline{50\text{ N}}} \\[5px]
\end{align}

Bei Unterschreiten einer Kraft von \(F_{2,min}\)= 50 N bewegt sich die Kiste also nach unten und bei Überschreiten einer Kraft von \(F_{2,max}\)= 200 N nach oben. Zwischen diesen Grenzfällen befindet sich das System stets in einem allgemeinen Gleichgewichtszustand, wobei dann kein allgemeingültiger Zusammenhang mehr zwischen den Kräfte \(F_1\) und \(F_2\) besteht! Die in einem solchen Fall wirkende Reibungskraft richtet sich nach der tatsächlich vorhandenen Kraft \(F_2\), wobei diese dann eben im Vorfeld bekannt sein muss. 

\begin{align}\;\;\;\;\;
&\boxed{F_R = F_2 -F_1} \\[5px]
\end{align}

Lediglich für die Grenzfälle können die wirkenden Reibungskräfte über die Seilreibungsgleichung wieder direkt ermittelt werden:

\begin{align}\;\;\;\;\;
&F_{R,max} = F_{2,max} -F_1 = F_1 \cdot e^{\mu \cdot \varphi} - F_1  \\[5px]
&\boxed{F_{R,max} = F_1 \cdot \left(e^{\mu \cdot \varphi}-1\right)}    \\[5px]
&F_{R,min} = F_{2,min}-F_1 = F_1 \cdot e^{-\mu \cdot \varphi} - F_1 \\[5px]
&\boxed{F_{R,min} = F_1 \cdot \left(e^{-\mu \cdot \varphi}-1\right)} \\[5px]
\end{align}

Für das vorliegende Beispiel ergibt sich im "hochziehenden" Grenzfall eine Reibungskraft von 100 N und im "ablassenden" Grenzfall eine Reibungskraft von betragsmäßig 50 N, wobei das negative Vorzeichen im Endergebnis der Umkehr der Reibungsrichtung geschuldet ist.

\begin{align}\;\;\;\;\;
&\underline{\underline{F_{R,max}}} = F_1 \cdot \left(e^{\mu \cdot \varphi}-1\right) = 100 \text{ N} \cdot \left(e^{0,3 \cdot 2,3}-1\right)=99,6 \text{ N} \approx \underline{\underline{100 \text{N}}} \\[5px]
&\underline{\underline{F_{R,min}}} = F_1 \cdot \left(e^{-\mu \cdot \varphi}-1\right) = 100 \text{ N} \cdot \left(e^{-0,3 \cdot 2,3}-1\right)=-49,9 \text{ N} \approx \underline{\underline{-50 \text{N}}}\\[5px]
\end{align}

Ein direkter Zusammenhang zwischen den Kräfte \(F_1\) und \(F_2\) besteht im statischen Fall im Allgemeinen also nicht! Im dynamischen Fall hingegen, d.h. wenn das Seil mit konstanter Geschwindigkeit gleitet und damit anstelle der Haftreibung die Gleitreibung aktiv ist, ergibt sich wiederum ein eindeutiger Zusammenhang zwischen den beiden Kräften! In den jeweiligen Gleichungen ist dann anstelle des Haftreibungskoeffizienten der entsprechende Gleitreibungskoeffizient \(\mu_G\) zu verwenden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Gleitreibungskoeffizient strenggenommen keinen Konstante ist sondern von der Geschwindigkeit abhängig ist!

Diese Seite verwendet Cookies. Mit Verwendung dieser Seite erklären Sie sich hiermit ausdrücklich einverstanden. Für mehr Informationen sowie die Möglichkeit zur Deaktivierung klicken Sie auf "Datenschutzerklärung".